Pionierarbeit unter der Pickelhaube (1893-1914)

Ende des 19. Jahrhunderts schickten sich auch die Männer vom europäischen Festland an, einem neumodischen Zeitvertreib nachzueifern, dessen Ursprünge auf den britischen Inseln zu finden waren. Auch viele Städte in Deutschland, im speziellen Leipzig, blieben davon nicht „verschont". Von der Mehrzahl der Turner und Funktionäre verschmäht - eine fremde, kampfbetonte Mannschaftssportart, dazu noch aus England - erfreute sich der Fußball mehr und mehr einer stetig wachsenden Zahl an Anhängern. Vor allem die Leipziger Schüler hatten eine neue Lieblingsbeschäftigung entdeckt. Nicht verwunderlich scheint es deshalb, wenn der Blick zu den Gründervätern der „Sportbrüder" Leipzig schweift. Am 11. November 1893 begingen unter Führung von Johannes Kirmse fast ausschließlich Mitglieder der 2. Realschule den historischen Akt. Wie schon erwähnt, war Fußball vielen ein regelrechter Dorn im Auge, erst recht beim ehrwürdigen ATV Leipzig von 1845. Interessiert hat dies die Aktiven des „Schöffler Clubs" - ebenso Fußballer bei jenem berühmten Leipziger Verein unter Leitung des Jura-Studenten Theodor Schöffler - in keinerlei Weise. Jedoch genügte ihnen die Rolle des ungeliebten Anhängsels nicht mehr, woraufhin Schöffler und Co. den eigentlichen „Ur-VfB" am 13. Mai 1896 aus der Taufe hoben. Bemerkenswert - nicht ein Gründungsmitglied war älter als 20 Jahre.

Erste Schritte auf dem Gohliser Exerzierplatz

Auf dem Gohliser Exerzierplatz fing es an. Immer wieder sonntags trafen sich die Unentwegten zum mehr oder minder gepflegten Ballspiel, und um von den vorbeigehenden Rosenthal-Spaziergängern abwertendes Kopfschütteln zu ernten. Sein historienträchtiges erstes Spiel gewann der VfB Leipzig am 5. Juli 1896 auf dem Lindenauer Sportplatz, alsbald 25 Jahre lang die Heimstätte des Vereins, mit 3:1 gegen den Leipziger Ballspiel-Club. Fasziniert und inspiriert zu gleich kehrte Schöffler wenig später aus Prag zurück. Dort war er Zeuge eines Duells zwischen dem hiesigen DFC Prag und einer englischen Mannschaft geworden. Die Spielweise der Gäste muss ihn dermaßen beeindruckt haben, dass sie als lohnendes Vorbild für die VfBer diente. Drei- bis viermaliges Training pro Woche bedeuteten von nun an keine Seltenheit mehr. Theodor Schöffler säte die Körner, welche alsbald zur „Frucht es Erfolges" reifen sollten.

1898 zeigt sich in dem Sinne noch als aufschlussreiches Jahr, da es am 1. Juli zum Zusammenschluss mit den „Sportbrüdern" kam. Hoffnung auf etwaige Titel bestand zum damaligen Zeitpunkt auf keinen Fall, die ersten Stadtmeisterschaften sicherte sich der LBC. Derweil erweiterte die Mannschaft den eigenen Horizont über die heimischen Stadtgrenzen hinaus, nämlich mit Gastspielen bei zu den damalig stärksten deutschen Mannschaften zählenden DFC Prag oder Berliner FC Preussen. Mussten in den ersten Vergleichen noch empfindliche Schlappen hingenommen werden (Beispielsweise ein 0:8 in Prag am 12.März 1899), so entpuppten sich die Debakel nur als hilfreiche Lehrstunden im fußballerischen Entwicklungsprozess. Wie schnell die Leistungsexplosion von Statten ging, beweisen zwei Daten - 3:2 hieß es am 20. Januar 1901 gegen den BFC Preussen, um den gleichen Gegner etwas mehr als ein Jahr darauf (16. März 1902) mit einem 3:10 aus Berliner Sicht wieder Richtung Heimat zu schicken.

Die Gründung des DFB:  Initiativen der VfB'er und Johannes Kirmses historische Worte

Wie viel visionäre Gedanken im VfB-Vorstand nicht nur für den eigenen Verein schlummerten, und warum jene „Schrittmacher" des Fußballs im Land für immer einen Platz im ewigen Glorienfoyer verdient haben, offenbarte sich endgültig am 28. Januar 1900. Mit den Worten: „Meine Herren! Die Zeit ist gekommen, die Notwendigkeit liegt vor, einen wohlorganisierten und Achtung gebietenden Deutschen Fußball-Bund ins Leben zu rufen. Überall empfindet man das Fehlen eines solchen", eröffnete Johannes Kirmse im Leipziger Restaurant „Zum Mariengarten" die Gründerversammlung des gegenwärtig größten und reichsten nationalen Fußballverbandes der Welt. Neben Kirmse hatten auch Dr. Ernst Raydt (Torwart der späteren Meistermannschaft von 1903), Johannes Röthig sowie Theodor Schöffler maßgeblichen Anteil an dieser Initiative. Sportlich konnte bis 1902 allerdings noch keine Vormachtstellung in der Stadt eingenommen werden. Der LBC und Wacker machten die Titel der Stadtmeisterschaften unter sich aus. In dieser Zeit zog es mittlerweile die ersten Schaulustigen zum Fußball, ja sogar die Presse ließ erste zarte Pflänzchen von Beachtung sprießen. Immer wieder wurden kleinere Meldungen veröffentlicht (es seien an dieser Stelle die Leipziger Neuesten Nachrichten und das Leipziger Tageblatt erwähnt).

Während der DFB noch in den Kinderschuhen steckte, lag das Augenmerk besonders auf dem Begehr, die landesweit beste Vereinsmannschaft zu ermitteln. Der fünfte DFB-Bundestag vom 17./18.Mai 1902 in München besiegelte die Durchführung einer Bundesmeisterschaft für die kommenden zwölf Monate. Im Pokalmodus spielten die Teilnehmer den Meister aus. Das Feld setzte sich aus den Siegern der jeweiligen Landesverbände (28 an der Zahl) zusammen. Ziemlich logische Idee, nur stellte sich die Umsetzung durch die Vereine als schwieriges, für viele Landessieger unüberwindbares finanzielles Unterfangen dar. Mitgliedsbeiträge und Zuschauereinnahmen reichten nicht annähernd für den Kostenaufwand, den es bei den anstehenden Zugreisen quer durch das Land zu bewältigen galt. Letzten Endes nutzten lediglich sechs Landesmeister ihre Startberechtigung - darunter auch die Fußballer des VfB. Wie kam es dazu? Die Truppe schien auf den Punkt genau von Schöffler vorbereitet. Die Leipziger Stadtmeisterschaft konnte souverän zum ersten Mal nach Lindenau geholt werden. Die Zeit, in denen die alten Rivalen Wacker und LBC Triumphe einfuhren, ward endgültig ad acta gelegt. Acht Siege, kein Punktverlust und überzeugende fußballerische Vorstellungen ließen erst gar keinen Zweifel am verdienten Titel aufkommen.

Mitten in der Vorbereitung auf das Endspiel zum mitteldeutschen Triumph gegen den Dresdner SC traf das Schicksal den Verein. Theodor Schöffler, Pionier, Visionär, Vorreiter und Trainer in einer Person, verstarb urplötzlich am 19. März 1903. Es blieb ihm verwehrt, die kommenden erfolgreichen Jahre selbst mitzuerleben. Der 3. Mai 1903 bescherte dem Verein den mitteldeutschen Titel. Der DSC besaß beim 0:4 nicht den Hauch einer Chance. Die deutsche Meisterschaft stand an. Dort bezwang der VfB in der Vorrunde Britannia Berlin (3:1) und im Halbfinale den Altonaer FC 1893 (6:3). Ein herrliches Kuriosum begleitet den Weg des Finalgegners. Das zweite Halbfinale zwischen dem Karlsruher FV und dem DFC Prag, welches in Leipzig ausgetragen werden sollte, fand nie statt. Nach großem Hin und Her des Spielortes wegen einigten sich beide Parteien auf die Messestadt. Wenige Stunden vor der geplanten Reise ins Sächsische erhielten die Badener ein Telegramm mit dem Hinweis der Spielabsage - Gefälscht! Der Übeltäter wurde nie ermittelt und die Karlsruher um ihre Meisterschaftschancen gebracht. Der KFV kam nie in Leipzig an, der DFB wies den Einspruch aus Gründen mangelnder badischer Sorgfalt ab und hatte seinen ersten wirklichen Skandal.

"Viktoria" in der Vitrine - Der VfB wird 1903 erster Deutscher Meister

Dem 31. Mai war es demnach vorbehalten, in die Historie des deutschen Fußballs einzugehen. Finanziell war keiner der Spieler derart auf Rosen gebettet, irgendwie auf luxuriöse Weise die Reise nach Altona zu begehen. Mehr als der völlig überfüllte Nachtzug dritter Klasse in die Elbmetropole war nicht zu realisierbar, Schlafmöglichkeit Fußboden oder Gepäcknetz inklusive. Ohne einen gewissen Franz Behr, Präsident des gastgebenden FC Altona, einziges Mitglied des Organisationskomitees, Kassierer des Eintrittsgeldes und Schiedsrichter in einer Person, lief am Tag des großen Finales überhaupt nichts. Seine Aufgaben vollbrachte er auch zur größtmöglichen Zufriedenheit, wäre da nicht dieser kleine Fauxpas in Form des fehlenden Spielballs gewesen. Mit einer halben Stunde Verspätung deklassierte der VfB Leipzig den DFC Prag vor 2.000 zahlenden, restlos begeisterten Kiebitzen mit 7:2, sicherte sich somit das Privileg, den Siegerpokal „Viktoria" erstmals in Empfang zu nehmen.

Auch britische Klubs waren auf das sächsische Husarenstück aufmerksam geworden. In mehreren freundschaftlichen Vergleichen über die Jahre bis zum Kriegsbeginn hinweg, gegen namhafte Gegner wie Celtic Glasgow (1:9), den FC Portsmouth (1:6), die Tottenham Hotspurs (1:3) oder den FC Middlesborough (0:7), zeigten diese den Leipzigern allerdings deutlich, wie groß die Unterschiede noch waren. Bereits im nächsten Jahr erreichte der VfB erneut das Endspiel, welches eigentlich in Kassel gegen Britannia Berlin stattfinden sollte. Doch der Karlsruher FV machte dem einen Strich durch die Rechnung, indem sie Protest für das eigene verlorene Viertelfinale (1:6 gegen Britannia) einlegten und Recht bekamen. Es war festgesetzt, die Meisterschaftspartien auf neutralem Boden (außer bei vorheriger Einigung der Mannschaften) auszutragen. Dies geschah bei besagtem Spiel nicht. Der DFB gab den Karlsruher klein bei, annullierte alle Partien - die Meisterschaft wurde ausgesetzt. Ein gewisser Camillo Ugi stieß derweil vom LBC zum VfB. Das Gesicht der Mannschaft änderte sich zusehends, was die Erfolge nicht beeinträchtigte.

Rekordmeister und ein Jahrhundertspiel

1906 drang der VfB zum dritten Mal binnen vier Austragungen ins Endspiel vor, ließ sich dort vom 1. FC Pforzheim nichts vormachen. Sie siegten in Nürnberg durch ein Tor von „Heini" Riso kurz vor Ultimo mit 2:1. In den Jahren danach folgten Stadt- und mitteldeutsche Meisterschaften fast im Fließbandakkord, doch gelang bis ins Jahr 1912 kein weiterer deutscher Meistertitel.
Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde man zum dritten Mal deutscher, gleichzeitig auch Rekordmeister. In München-Sendling gelang vor 5.000 Zuschauern ein 3:1 Sieg über den Überraschungsfinalisten Duisburger Spielverein. „Bert" Adelbert Friedrich baute sich gleichzeitig sein eigenes Denkmal, denn nur jenem Spieler blieb es vorbehalten, bei allen drei Meistertiteln aktiv gewesen zu sein. Nicht „Don" Camillo Ugi, keinem Heinrich „Heini" Riso oder „Paulsen" Paul Pömpner war dieses Kunststück gelungen. Das letzte Kapitel dieser Epoche schließt sich mit dem denkwürdigen Finale von 1914. Die SpVgg Fürth bezwang in einem „Jahrhundertspiel" nach zweimaliger Verlängerung in der 153. Minute den Rekordmeister mit 3:2. Die Titelsammlung der Pioniere unter der Pickelhaube kann sich trotzdem mehr als sehen lassen - sechs Finalteilnahmen binnen zwölf Jahren, drei deutsche Meisterschaften, dazu noch sieben mitteldeutsche Siege - der VfB Leipzig stellte das „Who is who" des deutschen Fußballs.

 
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